Das Argument der „menschlichen Grenzfälle“

Tierethik & Veganismus · November 27, 2021

PETA hatte vor einigen Tagen auf Youtube (und auf IG) ein Video über “Speziesismus” hochgeladen, in dem auch kurz auf das sogenannte Argument der menschlichen Grenzfälle bzw. auf das “argument from marginal cases” zurückgegriffen wurde. Das hat natürlich wieder das übliche Geplärre verursacht, aber dazu erst in Teil 2 mehr.
Bevor wir uns dieses Argument und die Kritik daran genauer anschauen, möchte ich mal eine grundsätzliche, für die Szene wichtige sowie für das Argument relevante Grundsatzüberlegung ausformulieren. Es geht dabei nicht um ‚bahnbrechende‘ neue Überlegungen, sondern es geht um Überblick, um Klarheit. Wir müssen den Veganismus ‚von außen‘ betrachten können – so, wie ich ein Haus nicht vollständig beschreiben kann, wenn ich es nur von innen gesehen habe.

Einleitung

Der Veganismus ist per Definition eine Gerechtigkeitsbewegung, da er neben Grausamkeit (das gezielte Schaden-Wollen) die Ausbeutung zum zentralen Begriff macht. Unter Ausbeutung verstehen wir ungerechte Nutzung, sodass zugleich auch klargestellt ist, dass es auch gerechte Formen der Nutzung geben muss.
Unser Alltag ist von zahlreichen Handlungen geprägt, mit denen wir andere Menschen für unsere Zwecke nutzen, ohne dass damit ein ethisches Problem verbunden wäre. Andererseits sind uns jedoch auch zahlreiche ‚Verzweckungen‘ bekannt, die wir als Ausbeutung, die wir als ungerecht betrachten.

Was ist Ausbeutung?

Es stellt sich nun die Frage, ab wann wir bei Tieren von gerechter oder ungerechter Nutzung sprechen können. Die einfachste Lösung ist der Ansatz, schlicht das als Ausbeutung zu betrachten, was wir im menschlichen Bereich als Ausbeutung betrachten würden.
Der Hintergrund dieses Ansatzes ist der Sachverhalt, dass sich kein überzeugendes Argument formulieren lässt, das alle Menschen auf eine ethisch relevante, überzeugende Weise sauber von den (anderen) Tieren trennt. Die gängigen Trennungsversuche sind ableistisch oder wir würden sie nicht mehr akzeptieren, wenn wir selbst in der Position des Schwächeren und somit Betroffenen wären, sodass sie letztlich nichts weiter als das schlecht versteckte Recht des Stärkeren sind.

Der Haken ist nun jedoch, dass Gerechtigkeit an sich leer ist. Der Grundsatz der Gerechtigkeit lautet: Gleiches gleich, Ungleiches ungleich. Es wäre auch gerecht, einfach alle gleich miserabel zu behandeln. Gerechtigkeit ist nur ein notwendiger Willkürausschluss; wer sich an diesen Grundsatz hält, weiß noch immer nicht, wie er konkret zu handeln hat.
Das heißt: Die vegane Szene ist durchaus gut beraten, sich am menschlichen Miteinander zu orientieren, um zu klären, was Ausbeutung ist und was nicht. Aber sie muss eine Tatsache stets im Blick behalten: Sie erreicht damit nur einen gerechten Umgang mit Tieren, aber keineswegs einen idealen. Denn: Dort, wo die zwischenmenschliche Ethik (oft genug eher nur Moral) in der Praxis de facto oder zumindest diskutabel defizitär ist, kann ein reiner Gerechtigkeitsansatz nur den defizitären Status quo auf andere Tiere übertragen.

Willkürausschluss

Der hier vorgeschlagene Ansatz hat den Vorteil, dass er von der veganen Szene flächendeckend angewandt werden kann, da er nur voraussetzt, dass man im Gespräch mit anderen Widersprüche bzw. Inkonsistenzen erkennt.
Jemand sagt, dass man Tiere grundsätzlich anders behandeln darf, weil sie weniger intelligent sind? Behandeln wir Menschen grundsätzlich schlechter, die zum Beispiel durch Unfälle auf das Intelligenzlevel eines ‚Nutztieres‘ reduziert wurden? Nein. Jemand möchte sich auf die bloße Spezieszugehörigkeit berufen? Würde er es akzeptieren, von einem überlegenen Wesen allein auf dieser Basis ausgebeutet zu werden? Nein. Usw. usf.
Dieser Willkürausschluss ist, auch wenn er real nie ganz zu erreichen ist, als Leitstern, als Ideal und Ziel unbedingt notwendig. Willkür bedeutet Regellosigkeit, und wer Regellosigkeit akzeptiert, hat keine Basis mehr, sich über irgendein Verhalten zu beklagen. Mit anderen Worten: Niemand möchte willkürlich schlechter behandelt werden, also sollte auch niemand Willkür für akzeptabel halten.
Diese Gesprächsstrategie hat den kaum überschätzbaren Wert, dass sie das Gegenüber dazu bringen kann, zu registrieren, wie willkürlich unser Umgang mit Tieren eigentlich ist, aber sie kann eines nicht leisten: Sie kann keine grundsätzliche ethische Position bereitstellen. Sie kann das Gegenüber nur in Widersprüche verwickeln oder es als ethisch ‚abstoßend‘ erscheinen lassen, aber sie kann uns fernab des Gleiches-gleich-Ungleiches-ungleich-Grundsatzes nicht sagen, was es eigentlich heißt, gut oder schlecht zu handeln.

In der Praxis wird es oft reichen, auf das Konsistenzkriterium (Widerspruchsfreiheit) zu setzen, jedoch nicht immer. Es besteht immer die Gefahr, dass ein Gespräch einen Schritt weitergehen muss, um zu klären, was wir sowohl Menschen als auch Tieren schulden. Und natürlich besteht auch die Möglichkeit, dass das Gespräch auf die Meta-Ebene gezogen wird: „Ethik ist doch subjektiv. Du hast mir gar nichts zu sagen!“
Selbst wenn der Veganismus per Definition nur Gerechtigkeit anstrebt und somit lediglich ein ethisches Minimalkonzept ist, reicht es also nicht, sich darauf auszuruhen. Wir benötigen ein echtes ethisches Fundament – und wir müssen wissen, wie wir auf meta-ethische Ausflüchte sowie auf Fragen reagieren können, die ethisch legitim sind, aber den Rahmen des Veganismus sprengen.

Kurz:

  1. Gerechter Umgang ist nicht gleich idealer Umgang. Es ist gut, erst einmal im Sinne des Veganismus Gerechtigkeit anzustreben; langfristig wird es jedoch auch um die Frage gehen müssen, wie eigentlich ein ideales Miteinander aussehen müsste.
  2. Die vom Veganismus vorgegebene Gerechtigkeitsperspektive reicht für viele Gespräche aus, aber wir benötigen auch ein rationales ethisches Fundament und müssen mit meta-ethischen Ablenkungsmanövern umgehen können.

Da nun grob umrissen ist, was der Veganismus leisten kann und was nicht – da nun herausgearbeitet wurde, wie der Gerechtigkeitsgrundsatz der Bewegung ethisch einzustufen ist, können wir uns dem Argument der „menschlichen Grenzfälle“ widmen. Wir können seinen Stellenwert, seine Tragweite und seine Grenzen jetzt ordentlich einordnen.

Das Argument der “menschlichen Grenzfälle”

Das Argument der “menschlichen Grenzfälle” oder “marginal cases” ist ein Klassiker der Tierethik mit fast 2000 Jahren Geschichte. So schrieb Porphyrios (232/234 n. Chr. – 301/305) zur Verteidigung des Vegetarismus:

“Wie ist es […] nicht unvernünftig, wenn man doch sieht, daß viele unter den Menschen nur auf der Höhe von Sinneswahrnehmung leben, Geist und Verstand aber gar nicht haben, und noch einmal viele an Rohheit, Gefühlsausbrüchen und Habgier sogar die schrecklichsten unter den Tieren übertreffen, Menschen, die ihre Kinder oder Väter töten, Gewaltherrscher und Knechte von Königen –: daß man […] meint, im Verhältnis zu denen hätten wir auf Gesetzesgehorsam zu achten, dagegen im Verhältnis zum Rind, das uns den Pflug zieht, zum Hund, der mit uns aufwächst, zu den Haustieren, die uns mit ihrer Milch nähren, ihrer Schur ausstatten, gäbe es dergleichen nicht – wie ist das nicht ganz und gar widersinnig?”

Porphyrios macht hier völlig zu Recht darauf aufmerksam, dass Intelligenz offenkundig nicht der Maßstab dafür ist, wer Rechte verdient und wer nicht. Wir behandeln die unschuldigen Tiere sogar schlimmer als die furchtbarsten Verbrecher.
Und auch im ersten deutschsprachigen Tierrechtsbuch von Wilhelm Dietler (Gerechtigkeit gegen Thiere, 1787) lesen wir:

“Man muss sich etwas sehr sonderbares unter Thierrechten denken oder eine sehr hoelzerne Philosophie haben, wenn man aus Wortstreitsucht den Thieren keine Rechte zugestehen will aus dem wunderlichen Grunde, weil sie keine Vernunft haben. Freilich, wenn man niemand Recht lassen will, als wer im Stande ist uns belangen zu können, so hat man Grund sie den Thieren abzusprechen, denn sie werden wohl schwerlich je mit uns wegen zugefügter Beleidigungen vor Gericht erscheinen. Aber dieses kann ja auch das unmündige Kind nicht, und doch laeugnet man nicht, es sei widerrechtlich, ungerecht, das Kind zu toeden zu verletzen oder dergleichen, das Kind habe also gewisse Rechte. Folglich koennen Thiere eben so wohl gewisse Rechte haben, das heisst, manche Handlungen gegen dieselben koennen ungerecht, unerlaubt sein. Und weiter will man ja nichts behaupten, wenn man sagt: die Thiere haben Rechte, als dass der Mensch Pflichten gegen dieselben habe.”

Auch wenn diese zwei Zitate schon ausreichend verdeutlichen, welchen Punkt das Argument der “menschlichen Grenzfälle” macht, sollten wir uns das Ganze nochmal mit einer ordentlichen Struktur anschauen.
Zur Wiederholung: Dem Argument geht es letztlich um Konsistenz, um Widerspruchsfreiheit, um einen Willkürausschluss, weil ohne diesen als Ideal gar kein gesellschaftliches Miteinander möglich wäre. Es macht den simplen Gerechtigkeitspunkt, dass wir Gleiches gleich behandeln sollten.
Formulieren wir es sauber:

  1. Um behaupten zu können, dass alle und ausschließlich Menschen ethische Berücksichtigung verdienen (und Tiere daher keine), müsste es eine ethisch relevante Eigenschaft X geben, die allen und nur Menschen zugesprochen werden kann.
  2. Alle Eigenschaften, die Menschen auf eine ethisch relevante Weise von anderen Tieren trennen könnten, fehlen bei einigen Menschen (sogenannte menschliche Grenzfälle).
  3. Die ethisch relevanten Eigenschaften, die alle Menschen haben, müssen auch vielen Tieren zugesprochen werden.
  4. Daher gibt es keine Möglichkeit, zu behaupten, dass alle und nur Menschen ethische Berücksichtigung verdienen.

(Angepasste Übersetzung nach: Scott D. Wilson (ohne Jahr), Animals and ethics, in: Internet Encyclopedia of Philosophy. A peer-reviewed academic resource.)

Der Standardeinwand

Das ist es nun - das Argument, das die Gemüter insbesondere seit Peter Singer so erhitzt und bei ihm zu sogar zu gewalttätigen Angriffen führte. Der Standardeinwand gegen dieses Argument lautet nun: “Der Mensch-Tier-Vergleich entwürdigt Behinderte, in dem er betroffene Menschen zum Beispiel mit Schweinen gleichsetzt.”
An erster Stelle sei darauf aufmerksam gemacht, dass dieser Einwand dieses Mal aus der veganen Szene kam – und wieder einmal verrät, dass die vegane Szene ihren stumpfen anthropozentrischen Blickwinkel noch immer nicht überwunden hat. Wer den Vergleich mit einem ‚Nutztier‘ als entwürdigend, als beleidigend empfindet, verrät mit seiner Empörung mehr über sich als über die Sache.
Die erwartungsgemäße Erwiderung lautet nun: „Es sind die Menschen mit Behinderungen, die dieses Argument als entwürdigend und beleidigend empfinden.“
Dieser Einwand hat nun gleich drei Probleme, aber zu einem davon kommen wir erst später noch:

  1. Wenn sich Menschen mit Behinderungen von diesem Argument entwürdigt oder beleidigt fühlen, dann sind sie schlicht nicht gemeint. Seit wann verstehen Menschen, die, warum auch immer, geistig auf das Level eines ‚Nutztieres‘ beschränkt sind, solche Argumente, ja überhaupt ganze Satzfolgen? Lächerlich.
  2. Beleidigt-Sein ist für sich noch kein Argument. Punkt. Wir leben in einer Zeit, in der es ihrer Herkunft nach linksextreme Ideen (die Kritische Theorie samt ihrer Machtpsychologisierung als unerträgliches Erbe Nietzsches und ihrer jämmerlichen Unterdrücker-Unterdrückten-Logik sowie eng damit verbunden der Postmodernismus; Equality of outcome/Equity statt Equality of opportunity) unbemerkt in die Mitte der Gesellschaft geschafft haben und von dort ausgehend aus übereifrigem Wohlwollen Verbreitung finden.

Ich habe neulich auf einem völlig durchgeknallten IG-Account folgende Äußerung gelesen, die bestens illustriert, was das Problem ist:

„Wenn eine Person aus einem bestimmten Kulturkreis erklärt, dass sie sich verletzt fühlt durch eine gewisse Handlung, dann ist es wichtig, das so anzunehmen. Es bestimmt immer [!!!!!!!!!] die diskriminierte und marginalisier[t]e Person, was kulturelle Aneignung ist und was nicht. Dieser Punkt ist sehr wichtig.“

Ignorieren wir die Tatsache, dass diese Denke Hirnfäule im nicht mehr therapierbaren Endstadium widerspiegelt – und schauen mal genauer hin.
Was ihr hier gerade gelesen habt, ist von der Logik her dasselbe: Wenn jemand, genauer: wenn eine „unterdrückte“, „diskriminierte“ oder „marginalisierte“ Person etwas sagt oder empfindet, dann ist das aufgrund des Machtgefälles schlicht weder zu hinterfragen noch zu kritisieren.
Wir bringen jedem Kleinkind bei, dass es nicht mit jeder Schnapsidee und nicht mit jeder Bockigkeit durchkommt, weil es für ein gelingendes Leben notwendig ist, zu lernen, dass man nicht alles bekommt und dass andere auch mal mit ihrer Kritik richtig liegen können, aber bei Erwachsenen mit Behinderungen oder bei Menschen mit Einwanderungshintergrund werfen diese Menschen alles über Bord und infantilisieren sie bis über jede Schmerzgrenze hinaus. Rassismus der niedrigen Erwartungen in Reinform.

Hinter dem Gefühl des Beleidigt-Seins oder des Sich-als-entwürdigt-Wahrnehmens kann sich ein valider Punkt verbergen, aber dieser ist dann eben auszuformulieren, damit man etwas hat, worauf man sinnvollerweise reagieren kann.
Das Hinnehmen von bloßen Gefühlen ist das Ende jedes Diskurses, ist schlicht absolut zersetzend für die Gesellschaft. Und das ist genau das, was wir aktuell erleben: Jahrzehnte-, ja teilweise jahrhundertealte Theorien zerfressen gegenwärtig in neuem Gewand unsere Kultur und metastasieren sich durch die entscheidenden Institutionen.
Die entscheidende Frage lautet nun: Verbirgt sich hinter diesem Gefühl vielleicht ein valider Punkt?
Bevor wir uns gleich dieser Frage widmen, sei nur noch ein gängiger Einwand kurz adressiert:

In der philosophischen Diskussion wird bisweilen versucht, das Argument ganz grundsätzlich dadurch zu kritisieren, dass behauptet wird, dass sich die Humanethik gar nicht auf Eigenschaften des Menschen stütze, sondern ein anderes Fundament habe. Wenn das Argument der „menschlichen Grenzfälle“ also nach der Eigenschaft fragt, die es rechtfertigt, dass wir Menschen grundsätzlich anders behandeln als (andere) Tiere, dann sei die Frage verfehlt, da unsere Alltagsmoral, aber auch die Humanethik nicht dieser Logik folge.
Diese Position bleibt, welche Form auch immer sie annehmen mag, die Antwort auf die Frage schuldig, warum wir Menschen denn überhaupt Moral oder bestenfalls Ethik wollen. Sie hängt in der Luft. Es lässt sich schlechterdings doch kaum bestreiten, dass selbst hinter den abstraktesten Ethikansätzen der Mensch als wollendes und nicht-wollendes Wesen, als Interessenträger steht. Und es sind nun einmal unsere Eigenschaften, von denen abhängt, was wir wollen oder eben nicht wollen. Auch hinter den abgehobensten Gedankengebäuden steckt doch am Ende ein Mensch als wollendes Wesen. In Nietzsches scharfzüngigen, brillanten Worten:

„Abgesehn noch vom Werthe solcher Behauptungen wie ‚es giebt in uns einen kategorischen Imperativ‘, kann man immer noch fragen: was sagt eine solche Behauptung von dem sie Behauptenden aus? Es giebt Moralen, welche ihren Urheber vor Anderen rechtfertigen sollen; andre Moralen sollen ihn beruhigen und mit sich zufrieden stimmen; mit anderen will er sich selbst an’s Kreuz schlagen und demüthigen; mit andern will er Rache üben, mit andern sich verstecken, mit andern sich verklären und hinaus, in die Höhe und Ferne setzen; diese Moral dient ihrem Urheber, um zu vergessen, jene, um sich oder Etwas von sich vergessen zu machen; mancher Moralist möchte an der Menschheit Macht und schöpferische Laune ausüben; manch Anderer, vielleicht gerade auch Kant, giebt mit seiner Moral zu verstehn: ‚was an mir achtbar ist, das ist, dass ich gehorchen kann, — und bei euch soll es nicht anders stehn, als bei mir!‘ — kurz, die Moralen sind auch nur eine Zeichensprache der Affekte.“

(Jenseits von Gut und Böse 187, Kritische Studienausgabe Band 5, S.107.)

Die stärksten Gegenargumente

Nun soll sich diese Analyse natürlich nicht nur an irgendwelchen IG-Kommentatoren und Luftschlosseinwänden abarbeiten, sondern es gilt, zu versuchen, die stärkste Gegenposition zu adressieren. Im Folgenden wird daher ein Fachbuch herangezogen, das sich akademisch und schroff ablehnend mit diesem Argument beschäftigt. Hier sollten schließlich die besten Gegenargumente zu finden sein, da die dazu vorhandene kritische Literatur für den Beitrag ausgewertet wurde.

Disability and political theory

Hier lesen wir nun von den berühmten Tierrechts-Theoretikern Sue Donaldson and Will Kymlicka („Zoopolis“): Das Argument der „menschlichen Grenzfälle“ sei „multiply flawed – intellectually, morally and politically – and disability advocates have effectively criticized it“. Ein derartig hartes Urteil lässt erwarten, dass solide Einwände kommen.
Die Auseinandersetzung mit dem Argument beginnt mit einer anständigen Brunnenvergiftung, indem behauptet wird, dass es sich um „‚conceptual exploitation’ of disability“ handle, da Menschen mit sachlich relevanten Behinderungen für Tierrechtszwecke „ausgebeutet“ werden würden. Ein unstatthafter Tiefschlag, da das Argument lediglich darauf besteht, dass das ethisch unverzichtbare Konsistenzkriterium (Widerspruchsfreiheit) bedacht wird. Auch Donaldson und Kymlicka wissen das eigentlich: „The burden of the AMC [argument from marginal cases] is to call for consistency in the way we deal with these ‘marginal’ cases“.

Was sind nun ihre Argumente?

„It perpetuates a deeply problematic conception of neurotypical human cognition as defining the core of moral status, and treats other forms of subjectivity as somehow deficient bases of moral status.“

Die Autoren stellen mit dem Wort „perpetuate“ (verewigen) klar, dass ihnen sehr wohl bewusst ist, dass es keineswegs die Tierrechtsszene ist, die eine (unbemerkte) Abwertung von Menschen mit Behinderungen vornimmt. Das Argument der „menschlichen Grenzfälle“ reagiert lediglich kritisch auf die in der Gesellschaft üblichen Rechtfertigungen der drastischen Andersbehandlung von Tieren. Und genau diese teils unbemerkt ableistischen oder behindertenfeindlichen Positionen haben eine lange Tradition.
Von Martin Luther ist in den Tischreden die Äußerung überliefert, dass man behinderte Menschen „ersäufen“ sollte, da sie „nur ein Stück Fleisch“ ohne „Seele innen“ seien. Sie sind nach Luther das Werk des Teufels und würden ihn statt der Seele im Leibe haben. (Martin Luthers Werke, Kritische Gesamtausgabe, Tischreden Band 5, Nr. 5207.)
Nicht besser ist Immanuel Kants bis heute ethisch prägendes Werk zu betrachten: Der Mensch, der nicht seiner reinen Vernunft folge, würde seinem Leben „kaum einen größeren Wert verschaffen”, als man „Hausvieh“ zusprechen könne (zu finden in: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht). Was dies für Menschen bedeutet, die grundsätzlich nicht vernunftfähig sind, bedarf keiner Ausführung.

„Daß der Mensch in seiner Vorstellung das Ich haben kann, erhebt ihn unendlich über alle andere auf Erden lebende Wesen. Dadurch ist er eine Person und vermöge der Einheit des Bewußtseins bei allen Veränderungen, die ihm zustoßen mögen, eine und dieselbe Person, das ist ein von Sachen, dergleichen die vernunftlosen Thiere sind, mit denen man nach Belieben schalten und walten kann, durch Rang und Würde ganz unterschiedenes Wesen […].“

(Zu finden in: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht.)

Nicht ‚ich-fähige‘ Menschen seien demnach nicht anders als Sachen zu betrachten, mit denen man „nach Belieben schalten und walten kann“. Sie seien keine Personen.

Es ist albern, der Tierrechtsszene vorzuwerfen, dass sie Menschen mit geistigen Behinderungen abwerten würde. Es geht ihr gerade nicht um die Abwertung von Menschen, sondern um die Aufwertung von Tieren. Sie möchte lediglich darauf aufmerksam machen, dass die Gründe, die dafür angeführt werden, Tiere erheblich schlechter als Menschen zu behandeln, bei Menschen keineswegs als ausreichend relevant eingestuft werden, damit die Willkürlichkeit der Schlechterbehandlung offensichtlich wird. Es ist schlicht nicht das Ziel, Menschen abzuwerten. Es ist eben gerade die Tierrechtsszene und nicht die allgemeine Bevölkerung, die sagt: Die Eigenschaften, die selbst schwer beeinträchtigte Menschen haben, reichen völlig für Grundrechte aus.

Donaldson und Kymlicka geht es jedoch auch noch um etwas Anderes: Sie stören sich daran, dass überhaupt ethische Abstufungen vorgenommen werden. Andere Formen der „Subjektivität“ seien eben nicht defizitär, sondern schlicht nur anders.
Diese Position ist so typisch für linksextreme Kreise wie sie irrational ist. Sie lässt sich nicht rational rechtfertigen, da unterschiedliche Eigenschaften mit einem unterschiedlichen Interessenumfang und –gewicht einhergehen. Das heißt: Auch wenn die geistigen Kapazitäten keineswegs ausreichen, um zwischen Grundrechtszusprache und der -verweigerung zu entscheiden, sind sie mitnichten ethisch vollkommen irrelevant. (Man denke daran, in welchem Ausmaß die Intelligenz von Delfinen oder Menschenaffen ihre Haltung in Tierparks und Zoos im Vergleich zu Kaninchen erschwert.)
Eine derartige Position, wenn sie mehr als eine geistige Verwirrung sein will, kann nur einnehmen, wer sie politisch verstanden wissen will. Die Annahme wäre dann: Nur das Kassieren sämtlicher Wertunterschiede wird uns sozial bzw. in puncto Gerechtigkeit voranbringen. Eine nicht minder gewaltige Absurdität, aber wenigstens auf den ersten Blick etwas plausibler.

Folgende Stellen verdeutlichen noch einmal, worum es dem Autorenduo geht:

„On our view, all beings who have a subjective experience of the world are self-originating sources of moral claims, regardless of their proximity or distance from any alleged norm of human neurotypicality, and regardless of their place on any alleged scale of cognitive complexity.“

„The correct response to this argument is not to point out that many humans also lack linguistic agency, and that logical consistency requires treating like cases alike (whether by elevating some animals or lowering some humans). The correct response, rather, is to directly challenge the idea that linguistic agency is a threshold capacity for moral status or citizenship, or that there is such a thing as ‘normal’ human cognitive capacity against which all are measured and some are found lacking. Moreover, pointing out cognitive differences (and we are all different from one another in our cognitive capacities) is just that, a description of differences. It is not an argument for unequal treatment, or for lesser or ‘marginal’ status.“

Die Position, die von den Autoren hier eingenommen wird, setzt schlicht Realitätsleugnung voraus. Sie führen den aussichtslosen Kampf, dass Normales nicht mehr als „normal“ wahrgenommen werden soll, indem sie den Begriff „normal“ ohne eine weitere Rechtfertigung ethisch aufladen, obwohl er lediglich dazu dient, reale Sachverhalte zu beschreiben bzw. sie einzuordnen. Dass sie die ethische Relevanz von unterschiedlichen Eigenschaftsausprägungen nicht sehen wollen, vergrößert die philosophischen Probleme des vermeintlich besten Einwands gegen das Argument der „menschlichen Grenzfälle“ nur noch.

Alles steht und fällt mit der Annahme, dass Wertehierarchien per se etwas Falsches sind – eine irrige Annahme, die neuerdings auch von Melanie Joy prominent vertreten wird. Obwohl zuzugestehen ist, dass Wertehierarchien ein gewaltiges Missbrauchspotenzial und in der Vergangenheit zu schrecklichen (Miss-)Handlungen geführt haben: Donaldson und Kymlicka bleiben jeden Beleg schuldig, dass wohlwollender Irrationalismus ungefährlicher als ein Reformversuch des Status quo ist.

Fazit

Das Argument der „menschlichen Grenzfälle“ gehört zu den großen ‚Klassikern‘ der Tierethik und hat sich in der Praxis immer und immer wieder als überaus effektiv erwiesen. Es erscheint unstatthaft, es aufgrund von Einwänden zu verwerfen, die – zu Ende gedacht – katastrophale gesellschaftliche Missstände provozieren und schlicht nicht haltbar sind. Die Sorge, mit dem Argument Menschen abzuwerten, statt Tiere aufzuwerten, sollte ernst genommen und in der Kommunikation aufgefangen werden, aber die vegane Szene sollte es tunlichst vermeiden, sich von derartigen Irrationalisten unterwandern zu lassen.

Wie irrational Donaldson und Kymlicka argumentieren und wie falsch sie liegen, offenbart schon die Tatsache, dass sie das Berücksichtigen von Intelligenz automatisch als ein Mittel der Abwertung begreifen, obwohl gerade das nicht der Fall ist. Das Einbeziehen von geistigen Kapazitäten kann viel eher dazu führen, nicht nur das Leben von Tieren, sondern auch von Menschen mit geistigen Behinderungen zu verbessern, denn:
Größere geistige Kapazitäten führen nur in manchen Handlungskontexten zu einer Bevorteilung. Gerade die Berücksichtigung von geistigen Grenzen kann auch zu einer schonenderen Behandlung verpflichten. Während das Setzen einer Spritze für einen Menschen mit einer ausreichenden Intelligenz ein harmloser Akt ist, weil er versteht, dass ihm nichts Schlimmes passiert, ist dieselbe Handlung für eine Maus ein fürchterliches Ereignis, da sie überhaupt nicht versteht, dass sie nur kurz für einen harmlosen Akt gegriffen wird.
So kann der Tod, wie Leonard Nelson herausgearbeitet hat (System der philosophischen Ethik und Pädagogik § 67), für einen ‚normalen‘ Menschen auch etwas weniger Schreckliches als für ein Tier oder einen behinderten Menschen sein. Er kann sich aufgrund seiner geistigen Kapazitäten mit seinem ‚Schicksal‘ abfinden, ‚gelassen‘ oder gar absichtlich sterben.
Normale menschliche Intelligenz ist schlicht einer von vielen Abwägungsfaktoren und ihre Berücksichtigung kein böses Unterdrückungsinstrument, auch wenn Donaldson sowie Kymlicka und IG-Kommentatoren das meinen.

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